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07.07.2023

Design & Tech im Popup Office 4 in Tallinn

Vom E-Scooter bis zum Lieferdienst

Tägliches Leben — auch voll digitalisiert

Wer mit Bargeld bezahlen möchte, wird angeschaut als käme er aus dem letzten Jahrhundert. Hier kann man selbst beim Tante-Emma-Laden und bei den Obstständen auf dem Markt digital per Handy, mit Kreditkarte oder EC-Karte bezahlen.

Taxis haben es hier schwer. Ein Bolt Wagen mit Fahrer ist jederzeit innerhalb weniger Minuten da, um einen zum gewünschten Ziel zu bringen. Man lädt sich die App herunter, wählt das Ziel auf der Karte aus, klickt auf „Confirm Order” und kommt dann ohne große Umwege sicher und einfach an sein Ziel. Man weiß schon vor Antritt der Fahrt wie teuer die Reise wird.

Keine Möglichkeit für Abzocke wie manipulierte Taxometers, Touristen-Aufschläge oder Ähnliches. Ein Tip kann ebenfalls ganz einfach per App im Nachgang an die Fahrt gezahlt werden. Wer sich nicht herumfahren lassen möchte, sondern selbst Mal ein Auto benötigt, um von A nach B zu kommen, der kann sich auch per App innerhalb von Sekunden einen Mietwagen in der Umgebung besorgen — Führerschein vorausgesetzt. Völlig ohne jegliche Hürden wird so der öffentliche Verkehr von privaten Firmen wie Bolt, Forus, Tuul und Co. bestimmt.

Für kürzere Trips kann man sich, wie man es ebenfalls aus deutschen Großstädten kennt, auch einfach einen E-Scooter oder ein E-Bike nehmen, die hier überall in der Stadt fein säuberlich verteilt sind.

Lebensmitteleinkäufe und Essensbestellungen kann man natürlich auch digital per App erledigen. Wahlweise lässt man sich die — ganz klassisch — per Bolt oder Wolt liefern. Hierbei ist es ganz normal wenn die Lieferung nicht nach Hause oder ins Büro kommt, sondern auch einfach mal in ein Café oder eine Bar, welche kein eigenes Essen anbietet.

Lieferung durch autonome Roboter

Eine ganze Ecke moderner und spannender wird es, wenn man sich kleinere Bestellungen von einem autonomen Roboter vorbeibringen lässt. Die Starships sind kleine Fahrzeuge, die auf den ersten Blick an ein groß gewachsenes ferngesteuertes Auto erinnern. Die Dinger sehen trotz ihres modernen Looks echt knuffig aus, weswegen sie in unserer Gruppe schon den Spitznamen „Robby” bekommen haben und ihr Auftauchen immer von einem lauten „Awww” begleitet wird. Die Größe der Fahrzeuge limitiert den verfügbaren Stauraum für die Bestellungen, daher sind nur kleinere Einkäufe ohne Probleme möglich. Ebenfalls muss man durch das sehr vorsichtige Fahren der Roboter mit einer längeren Lieferzeit gegenüber einer normalen Bestellung rechnen. In einem unserer Selbstversuche hat hier die Bestellung ca. eine Stunde für eine Distanz von knapp 2km benötigt. Wenn die kleinen Dinger angefahren kommen, bildet sich sofort eine kleine Menschentraube von Kindern, die sich das Spektakel anschauen und den „Robby” streicheln wollen. Eine sehr, sehr coole Erfahrung!

Starship-Lieferroboter steht auf einem Platz in Tallinn vor modernen Gebäuden.Smartphone zeigt die Live-Verfolgung eines Lieferroboters in einer App.Moderne Essenslieferung durch einen Roboter in Tallinn
Fokus auf einfache Bedienbarkeit

Entwicklung der Digitalisierung

In ein paar wenigen Situationen merkt man aber, dass Estland sich noch in der Entwicklung der Digitalisierung befindet. An manchen Stellen sind altbekannte Kinderkrankheiten wie fehlgeschlagene Zahlungen vorzufinden. Nach kurzen Nachfragen per Telefon heißt es, dass man die Tickets gerade nicht online kaufen kann und man einfach vorbeikommen soll.

Wenn man vom Handy aus Websites von diversen Einrichtungen, Restaurants und Co. besucht, bemerkt man, dass diese nicht im Mobile-First-Prinzip entwickelt, sondern primär für den klassischen Desktop entworfen wurden. Dies rührt daher, dass die Digitalisierung jung ist und auf einen Schlag stattfand. Es gab keine gewachsene Infrastruktur, die nach und nach erneuert werden musste, sondern eine Einführung ohne Altlasten. Das hatte natürlich Vorteile da man das komplette System aus einem Guss entwerfen konnte und viele Webseiten initial einheitlich neu waren. Es führte aber auch dazu, dass die meisten Websites eben zu diesem Zeitpunkt, als Mobile noch kein Thema war, entstanden und es bisher keine großen Erneuerungszyklen gab. Langsam wird der Mobile-First-Ansatz auch hier bewusster wahrgenommen, aber zum Teil ist es noch die Aufgabe der Agenturen, Kunden dafür zu sensibilisieren.

Geht man hier in die andere Richtung und wirft einen Blick auf die Mobile Apps von den großen Tech-Unternehmen, dann fällt sofort auf, dass diese nicht nur wunderschön designed wurden, sondern auch ein extrem großer Fokus auf eine sehr einfache Bedienbarkeit gelegt wurde.

Spiegel der estnischen Werte

Digitales Design

  • Nordic

  • Surprising

  • Smart

  • Clean

  • Simple

Das Design soll die essenziellen Eigenschaften und Werte der Esten widerspiegeln. Die Kommunikation soll authentisch, direkt aber höflich sein. Der Inhalt ist wichtiger als die Darstellung.

”Sprich von dem, was Dich besonders macht. Mach aus dem, was Du hast, das Beste und sei positiv - statt vom ständigen Regen zu reden, sprich über das Pilze sammeln.”

Collage, die Estlands Landschaften und digitale Identität zeigt.

Natur im Design – Estonian Design System

Die Natur ist in Estland sehr wichtig. Das sieht man im täglichen Leben, in dem Mülltrennung und ein möglichst kleiner CO2-Fußabdruck ständig präsent sind, genau wie die Sorge um die direkte Umwelt. Die Stadt ist sauber, fast nirgendwo sieht man Müll herumliegen. Für Einmalplastik-Schüsseln im Supermarkt zahlt man extra. Die Ausstellung moderner Kunst zum Thema Umwelt im Kunstmuseum von Tallinn beinhaltet als integralen Teil eine differenzierte Selbstreflektion, wie eine solche Ausstellung auf die Umwelt einwirkt. Die ständige Klimatisierung des Gebäudes, um die Kunstwerke zu schützen, ist belastend. Viele Elemente im Hintergrund der Ausstellungen werden jedoch wiederverwendet. Eine Videoinstallation ist in der Ausstellung selbst mit weniger Umweltkosten behaftet, aber in der Produktion fallen sie stärker ins Gewicht.

Die Natur fließt daher auch sehr stark in die offiziellen Designrichtlinien ein. Die zu verwendenden Farbgruppen symbolisieren die Natur Estlands: Meer, Nationalparks, Wasserfälle, Moore und Strände. Stylingelemente werden ebenfalls davon abgeleitet, wie zum Beispiel die Findlinge, die mit ihren unregelmäßigen Umrissen aus dem Schema herausstechen sollen. Die natürliche Variante findet man überall in Estland, als Überbleibsel aus der letzten Eiszeit in Wäldern und an der Küste verteilt. Die geradlinige, direkte Art der Esten findet sich ebenfalls im Design wieder. Klare Aussagen, Animationen in geraden Linien, nicht kreuz und quer oder in Kurven, keine Schnörkel.

Die Esten fühlen sich als nordisch und möchten sich auch so darstellen. Natürlich gibt es aber auch Einflüsse aus der Umgebung. Die baltischen Nachbarn, Überbleibsel der sovjetischen Besatzung und, noch länger her, auch deutsche Spuren. Deutsche Nachnamen sind verbreitet und es kann durchaus passieren, dass man auf der Straße oder im Restaurant auf deutsch angesprochen wird oder hier und da einige deutsche Wörter an Hauswänden wiederfindet.

Über 3/4 der Esten sprechen mehrere Sprachen. Die meisten sprechen natürlich Estnisch, aber auch Russisch und vor allem Englisch sind weit verbreitet. Finnisch und Deutsch werden ebenfalls gesprochen. In letzter Zeit kommen viele Digitale Nomaden aus aller Welt hierher, und besonders auch Flüchtlinge aus der Ukraine.

Daraus ergibt sich eine Diversität, die unter anderem in Design und Architektur gelebt wird, aber auch eine Suche nach dem, was wirklich estnisch ist und nur zu ihnen gehört. Mehr dazu wird es im Blogpost “Culture and Folk Art” geben.

Alexander-Newski-Kathedrale in TallinnBlick auf Tallinn mit Altstadtdächern und moderner Skyline bei sonnigem Wetter.

Design und Technik — natürlich und persönlich

„Design und Natur, Technik und die Person” in den Vordergrund zu stellen, das sind in Estland keine Gegensätze. Wie das Design von natürlichen Elementen und der Persönlichkeit der Esten bestimmt ist, wird die Technik auf den Menschen ausgerichtet. Der Benutzer steht im Vordergrund, die Lösungen sind kein Eigenzweck. Das führt zu einem Bewusstsein, dass das eigene Verhalten, die Umwelt, sowohl Menschen, als auch Natur stark beeinflusst. Dies spiegelt sich auch im Arbeitsleben wieder, wie zum Beispiel in der Philosophie unserer Partneragentur velvet. Accessibility ist immer Teil ihrer Arbeit und bestimmte Sparten, die für den Menschen schädlich sind, werden bewusst ausgeschlossen. Projekte für Alkoholika und Tabakwaren werden nicht angenommen. Estland ist nicht nur ein wunderschönes Land mit tollen Leuten. Estland ist auch ein Land, welches durch den starken Fokus auf Human-centered Design und Digitalisierung eine echte Führungsrolle innerhalb Europas und auf der ganzen Welt eingenommen hat. Gepaart mit einem sehr hohen Lebensstandard und vereinfachter Bürokratie, hat dies in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass sich eine sehr große und mittlerweile auch erfahrene Technologiebranche in Estland gebildet hat. Wir können noch sehr viel von Estland und seinen bisherigen Erfahrungen lernen und ein Beispiel daran nehmen, wie es richtig geht.

Telliskivi Creative CityWandbild eines Fotografen an der Fassade des Juhan Kuusi Dokfoto Keskus in Tallinn.
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